Die Landeskirchen vom 20. Jh. bis heute
In unseren Kirchgemeinden leben noch einige Menschen aus den Jahrgängen der späten 1910er und aus den 1920er-Jahre und viele aus den 1930er-Jahren. Sie haben die Kirchgemeinden des beginnenden 20. Jahrhunderts kennengelernt. Sie erlebten alle Wechsel mit, die sie seitdem durchlebt hat. Einige finden sich in ihrer Kirchgemeinde heute nicht mehr zurecht, fühlen sich fremd, andere begrüssen die Wandlungen sehr. Wieder andere ältere Menschen haben dafür gesorgt, dass sich "ihre Kirche" nur wenig gewandelt hat. Die Jahrgänge ab den 1960er-Jahren fehlen den meisten Kirchgemeinden zuhauf. Was ist geschehen?
Inhaltsverzeichnis
WendepunkteNach oben ↑
Im 20. Jahrhundert erlebte die schweizerische Gesellschaft mehrere Wirtschaftskrisen und zwei Weltkriege als neutraler Staat. Sie wurde über die Medien Zeuge von der Landung auf dem Mond, von der Atombombe, der Atomenergie und dem Reaktorunfall in Tschernobyl.
Das Land wurde bewegt durch den Fichenskandal, und langsam begann die Aufarbeitung der Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg. Die Bürger erlebten im 20. Jh. den technischen Fortschritt zuhause: Waschmaschine, Staubsauger, Radio, Telefon, Fernseher, später Spülmaschine, Mikrowellenherd, Computer, Fax, Internet und das transportable Telefon vom "Natel" zum "Handy".
Im 21. Jh. begann die Digitalisierung des Alltags und der Kommunikation. Der Computer wurde auf Handgrösse geschrumpft und das Internet mobil; Datenschützer standen einer Masse gegenüber, die naiv Daten - bis zu den intimsten Daten über sich - in die Öffentlichkeit des Internets stellten.
Die Werte der Gesellschaft wandelten sich von einer sozialen, gemeinschaftlichen Ausrichtung (BLAU) zu einer individualistischen Ausrichtung (ORANGE); von einem Volk des Gemeinwesens und der gemeinsamen Geschichte (BLAU) zu einer globalisierten Konsumgesellschaft ohne gemeinsame Geschichte oder Identität (ORANGE).
Das Selbstverständnis des Individuums erhob die eigene Meinung zum Gut. Die bewertende Gesellschaft (Likes!) steht heute im Dienste einer personalisierteren Wirtschaft für angepasste und gewinnoptimierte Dienstleistungen.
Dass politisch (oder sozial) mit der Datenmenge auch unliebsame Mitmenschen "ausgeschaltet" werden können, dringt erst langsam ins Bewusstsein, weil es im Ausland vorgemacht wird.
Doch noch fühlen wir uns durch unsere alte Demokratie gschützt. Wie schnell aus Demokratien Plutokratien, Diktaturen oder "Demokraturen" werden, durften wir im näheren Ausland miterleben. Der Weg dahin führt durch Polarisierung, bzw. dualistische Schwarz-Weiss-Denken (purpur und rot) und das bewusste Schüren von Ängsten.
Und die Kirche in alledem?
Die Wechselbäder der KircheNach oben ↑
Die reformierte Kirche in der Schweiz wurde geprägt von der Kirche in Deutschland. Anfangs Jahrhundert war der Pfarrer (Pfarrerinnen gab es noch keine) eine Autorität. Die einen nutzen das für persönliche Zwecke aus, die anderen nutzten das, um dringende Verbesserungen für die Bevölkerung durchzusetzen.
Erstere haben der Kirche bis heute geschadet. Ihre Skandale kommen langsam ans Licht der Öffentlichkeit, die Dunkelziffer der begannenen Straftaten ist gross aufgrund des Tabus, das die Kirchen schützt. Unter ORANGEM Druck der Öffentlichkeit bröckeln aber langsam die Fassaden - auch im extrem mächtigen Vatikan.
Letztere haben den Staat auf seine Defizite aufmerksam gemacht und so standen sie am Anfang unseres modernen Staates, der viele von der Kirche angestossene Verbesserungen, Bewegungen und Einrichtungen übernommen hat: Spital, Bildung, Armenwesen.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der Bevölkerung allmählich bewusst, wie sehr sich die Kirche vom Staat vereinnahmen liess und dabei ihr Wesen zu verlieren drohte. Sie hielt nicht zu den Schwachen und Verfolgten, wie Jesus es getan hätte. Sie hielt in Deutschland nicht einmal zu Jesus Christus, dem Juden.
Das Vertrauen in die Kirchenfunktionäre schwand allmählich. Nur die "Bekennde Kirche" hielt die Fackel hoch und rettete in Deutschland die reformierte Kirche und ihr Ansehen im reformierten Europa.
Die Jugendrevolten ab den 1950er-Jahren und die gesellschaftlichen Impulse der "68er"-Bewegungen führten zur Forderung, dass alles, was zum "Establishment" gehörte, verworfen werden müsse. Dazu gehörte die gesichtslose Institution Kirche. Im Einzelfall galt der Hass den Gesichtern von Pfarrern, Diakonen, Sonntagsschullehrerinnen oder anderen kirchlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, welche ihre Macht missbraucht hatten.
Sie alle wurden global verworfen. Sobald es sozial akzeptiert war und die Familie an Einfluss verlor, traten die Menschen aus "der Kirche" aus. Sie hatten bereits vergessen, dass sie selbst ja Kirche waren udn sie mitgestalten. Auch durch ihre Kritik.
"Kirche" wurde zu einem abstrakten Begriff, persönliche Erlebnisse mit "ihr" wurden seltener. Der Begriff bedeutete unreflektiert dasselbe wie "Religion", Fanatismus, Skandale und Rückständigkeit. Die Kirche war ab den 1980er-Jahren bei Jungen und erwerbstätigen Erwachsenen, besonders auch in Städten immer häufiger "out".
Die Theologen gerieten in den 1950er und 1960er-Jahren in einen unschönen und persönlich geführten Frontenkampf zwischen Barth-Anhängern und liberalen Theologen. Obwohl die Kirche durch diese Diskurse auch wieder zur reden gab und mitreden wollte. DDoch die theologischen Streitigkeiten verunsicherten die Gemeinden und Nicht-Theologen zutiefst.
Das Ergebnis war eine zerrüttete reformierte Kirche. Ähnlich der heutigen Zerrütung zwischen evangelikalen und landeskirchlichen Kirchen udn zwischen den konservativen und innovativen Kräften.
Was zu denken geben sollte: Aus einer Aussenperspektive werden alle Denominationen als Christen wahrgenommen, ohne Unterschied.
Was die "Säkularisierung" konkret ausmachteNach oben ↑
Wer an Gott glaubte, glaubte zunehmend nicht mehr "an die Kirche". Das zunehmende Unwissen führte auch zu Verwechslungen zwischen römisch-katholischer und reformierter Kirche, sodass Angehörige einer Volkskirche manchmal nciht wussten, ob das nun ihre eigene oder eine andere Kirche betraf, was in der Zeitung stand oder Nachbarn erzählten.
Auch nach der Reformation fühlte sich die Kirche für gewisse Leute an, wie jene mittelalterliche Institution, von der man nur ein vages dunkles Bild hatte, genährt durch Romane, Filme und Geschichtsstunden.
Gute Pfarrpersonen genossen im persönlichen Kontakt weiterhin das Vertrauen derer, um die sie sich im öffentlichen Auftrag zu kümmern hatten.
Seelsorge und Diakonie schrieben die Landeskirchen der Neuzeit auf Ihre Fahnen, vergassen dabei aber zusehends den Glauben, die geistliche Dimension der Menschen. Damit wurden die Menschen je länger je mehr allein gelassen. Sozusagen abgehängt durch Verantwortliche, die keine Zeit mehr dafür hatten und dadurch, dass in Familien dieses Wissen und diese Praxis langsam aber sicher nicht mehr weitergegeben wurde. Die ORANGEN und materialistischen Werte veururteilten Geistliche Themen ohnehin, so verstummten immer mehr Pfarrpersonen und Einzelne, wenn es um Glaubensfragen ging. Die freien Kirchen bekamen damit Aufwind.
Die Reformation, also das Wissen um die klare Abkehr vom Vatikan und Papsttum, war den Reformierten des 20. Jhs. je länger je mehr abhanden gekommen, da sich niemand mehr die Mühe nahm, dieses Erbe an die nächsten Generationen weiterzugeben. Nicht die Kirchen, nicht die Familien und auch nicht die Schulen. Vor allem in "bildungsfernen" städtischen und vorstädtischen Milieus ging das Erbe verloren.
So ist heute nur noch eine Minderheit in der refomrierten Volkskirche fähig, seine Konfession von der katholischen zu unterscheiden. Skandale in der römisch-katholischen Kirche werden mit dem Austritt aus der reformierten Kirche quittiert.
Nicht selten aber, um den Unwillen zu verstecken, weiterhin Kirchensteuern zu bezahlen. Nicht nur der Mensch selbst will sich optimieren, auch die Steuern wollen optimiert werden.
Die Kirchenbehörden, Pfarrschaften und andere kirchliche Mitarbeitenden stimmten ab den 1960er und 1970er-Jahre in den kritischen Kanon ein und negierten zusehends einen Glauben an einen leiblich auferstandenen Jesus Christus. Sie können biblische Inhalte mit ihrem zunehmend wissenschaftlich und psychologisch geprägten Weltbild nicht mehr vereinbaren.
Also wird in gewissen Kantonen die Bekenntnisfreiheit eingeführt: Das heisst, jede Kirchgemeinde ist frei, ihr Bekenntnis zu wählen. (Bekenntnisfreieheit heisst nicht "Ohne Bekenntnis", sondern "ohne vorgegebenes, einheitliches Bekenntnis".
Die Theologie entdeckt ein neues WIR, eines, das mit den "dogmatischen" Vorgaben der bisherigen Kirchenlehren nichts mehr zu tun haben wollte. Sie entdeckte neu alle Unterprivilegierten der Welt.
Die reformierte Theologie erlaubte sich einen kritischen Umgang in der Bibelexegese, also der Deutung der Bibeltexte.
Der normative (gesetzgebende) Charakter, der aus der Bibel bisher abgeleitet wurde, wich einem Pluralismus, der an einen Selbstbedienungsladen zu erinnern begann: Man zitierte, was passte, liess aus, was nicht passte. Es ist auch keine Neuigkeit mehr, dass Menschen sich heute ihre eigene, persönliche Religion zusammenzimmern und damit meistens sogar glücklich sind.
Die "Rückkehr der Religion"Nach oben ↑
Dann flogen Flugzeuge in amerikanische Hochhäuser der Finanzwelt. Die Bilder gingen um die Welt wie zuvor der Schuss auf Kennedy, die Mondlandung und der Berliner Mauerfall. "Der Islam" war plötzlich in aller Munde. "Terrorismus" wurde das neue westliche Feindbild, während das des "Russen" durch die Perestroika langsam verblich.
Man nahm die eingewanderten Ex-Jugoslaven plötzlich auch als Muslime wahr, Männer mit Bart und dunklem Teint wurden skeptisch gemustert, wenn sie in ein öffentliches Verkehrsmittel stiegen. Eine Anti-Minarettinitiative hatte gute Chancen.
"Religion", negativ konnotiert, war wieder in aller Munde und in den Medien wieder präsent. Und da merkten Viele, dass sie dem Fremden Glauben keinen eigenen Glauben entgegensetzen konnten. Vor allem aber fehlte eine Sprache, um über Glaubensdinge zu reden. Zu lange war dieser in die Privatsphäre abgeschoben worden, wo jeder sich selbst überlassen worden war. Die individuelle Suche nach Gott glich einem Schmetterlingsflug von Blüte zu Blüte und war sehr fragil.
Sekten freute es. Wer Regeln und Identität suchte (BLAU), konvertierte z. B. zum Katholizismus oder Islam oder sucht eine refromierte Gemeinschaft, die nach strengen Regeln lebte. Wer spirituelle Bewusstseinserweiterung suchte, um sich selbst zu optimieren und seine Kompetenzen zu erweitern (ORANGE), besuchte Kibbuzzim, Ashrams, buddhistische Klöster oder teilweise weltlich orientierte Persönlichkeitstrainings mit transzendenten Elementen. Doch den Wenigsten kam in den Sinn, die eigene reformierte landeskirchliche Gemeinde vor Ort aufzusuchen.
Diese hatte sich am Ende des 20. Jahrhunderts quasi in sich selbst verkrümmt: Die Jahrgänge aus den 1940er Jahren hatten die Verantwortung in der Kirche, die Jahrgänge der 1900er bis 1930er-Jahre lenkten die Kirche in ihrem Sinn aus dem Hintergrund und als Mehrheit der Aktiven und meist Zielgruppe Nummer eins.
Nach und nach ging die Investition in die jungen Familien und in ihre Kinder vergessen. Manchmal auch bewusst vernachlässigt durch jene Kirchenmitglieder, die sich an den Jungen und ihrem Lärm störten. Das attraktive kirchliche Angebot früherer Jahre wurde quantitativ längst von Schulen und Vereinen abgelöst und qualitativ überholt.
Was der Kirche früher gelungen war (Schulung, Rechte, Freizeit miteinander, Kranken- und Armenpflege), wurde ausgegliedert und vom Staat übernommen oder von Vereinen und privaten Institutionen. Die Kirche machte sich immer mehr obsolet, weil sie ihre Kernkompetenz, die geistliche Dimension des Lebens, inzwischen völlig aus den Augen verloren hatte. Ja, sogar selbst immer sprachloser wurde oder auf höchstem Niveau unter ihresgleichen kommunizierte.
Das Dach der KirchenNach oben ↑
Heute ist die Kirchenlandschaft auch innerhalb der Landeskirchen pluralistisch. Dieser Pluralismus ist nicht friedlich. Im besten Fall herrscht Indifferenz. Es haben sich viele z. T unversöhnliche Fronten gebildet:
In der Synode zwischen den Parteien, in der Kirchenlandschaft zwischen "Landeskirchlichen" und "Evangelikalen", in der Kirchgemeinde zwischen der Berhörde und der Pfarrschaft, zwischen Pfarrschaft und Sozialdiakonen oder Katechetinnen, zwischen Sigristen und denen, die unpraktisch denken oder zu viel oder zu wenig Infos geben.
Auch zwischen den einen und den anderen Gruppen innerhalb der Ortsgemeinde redet man nicht gerne miteinander.
Und dann gibt es noch jene, die aus ihrer Kirche hinausgemobbt wurden und nun einen Groll gegen die Verbleibenden haben. Neuankömmling wie Neuzuzüger oder Pfarrpersonen, werden von ihnen gelegentlich vereinnahmt und geraten so unweigerlich zwischen alte Fronten, von denen sie noch nichts wissen können.
Die Kirchgemeinden sind in der Regel in sich zerstritten. Die einen hängen es an die öffentliche Glocke, die anderen tabuisieren das Problem.
Doch weil im Grunde alle im Herzen unglücklich sind, und gerne wieder Frieden sähen in der Kirchgemeinde, schaut Kirche integral mit einem integralen Blick auf unsere Landeskirchen und erkennt die Wertekonflikte und die Machtkonflikte, die u.a. auf ein nicht geglücktes Zusammennwachsen als Gemeinde oder Team schliessen lassen.
Einer der Machtkonflikte ist dem Wertekonflikt geschuldet, ein anderer geht von Machtmenschen aus. Diese missbrauchen ihre Macht für persönliche Zwecke.
Den Landeskirchen fehlen griffige Kontrollmechanismen, um Machtmenschen in der Kirche keine Macht, also keine Arbeit, kein Amt und keine Kompetenzen zu geben. Denn sie dekonstruieren die Kirche von innen her.
Wertekonflikten hingegen kann man begegnen, indem man separiert, was nicht zusammengehört. Sei dies in Diskussionen, sei dies bei Angeboten, oder durch Aufteilung einer Gruppe in Gruppen mit denselben Werten. In einem zweiten Schritt gilt es Brücken zu bauen und gemeinsame Stricke zu finden, an denen alle ziehen mögen. Oder man handelt Kompromisse aus, gibt also mal der einen Gruppe, mal der anderen das Recht, etwas so zu tun, wie sie es für richtig hält. Eine Auswertung im Anschluss stellt sicher, dass jede Variante für alle auch einen Gewinn beinhalten kann.
Kirche integral will bei allen Wertesystemen das Verständnis dafür fördern, dass neben ihnen andere Wertesysteme in der Kirche existieren.
So kann man sich innerhalb (s)einer Wertegemeinschaft wie in (s)einem Zimmer zuhause fühlen. Man soll aber wissen, dass es noch andere Zimmer in diesem Haus der Kirche gibt, mit anderen Wertegemeinschaften. Und über ihnen allen ist ein Dach, der Christus. Ein Dach, das alle schützt, zusammenhält und nach "oben" verweist zu Gott.